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Dagmar Metzger.

„Wenn Politik Züge von Religion annimmt“ :

Interview mit der FAZ am 6. November 2008

„Wenn Politik Züge von Religion annimmt“

Seit sich die drei SPD-Abgeordneten Silke Tesch, Jürgen Walter und Carmen Everts am Montag Dagmar Metzger anschlossen und sich gegen die Wahl Andrea Ypsilantis aussprachen, sind sie in ihrer Partei heftig kritisiert worden. Mit dieser Zeitung sprachen sie über ihre Sicht der Dinge.

Frau Tesch, Frau Everts, Frau Metzger, Herr Walter: Haben Sie gut geschlafen in der Nacht zum Montag? Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die Entscheidung getroffen hatten, Frau Ypsilanti nicht zu wählen?

Everts:
Ich habe die ganze Nacht an das, was jetzt kommt, gedacht. Sowohl für mich als auch für meine Partei. In dieser ganzen Woche habe ich sehr schlecht geschlafen und mich erbrochen.

Walter:
Ich habe sehr schlecht geschlafen. Mir war klar, dass dieser Schritt nach 20 Jahren in der SPD mein Abschied aus der Partei und der Politik sein kann. Ich werde mich wohl nach etwas Neuem umsehen müssen.

Tesch:
Ich hatte sehr starke Kopfschmerzen, die mir wie schon seit Wochen den Schlaf geraubt haben.

Metzger:

Bei mir kam die ganze Situation vom März wieder hoch. Das war wie ein Boxkampf über zwölf Runden.

Frau Tesch, Frau Everts, Herr Walter. Hat Frau Metzger Sie darauf vorbereiten können, was seit Montagmorgen über Sie hereingebrochen ist?

Tesch:
Das hat sie natürlich getan, aber wirklich vorbereiten kann sie auf so etwas niemand.

Walter:

Ich hatte das Bild vom Landesausschuss der SPD in Frankfurt im März vor Augen, wo Dagmar Metzger auf eine Mauer von Hass und Unverständnis gestoßen ist.

Metzger:
Wir lassen uns jedenfalls nicht auseinanderdividieren. Die mich heute als die Gute bezeichnen, wollten mich im März richten. Wir sind eine Gruppe und nicht eine Gute und drei Böse.

Everts:
Man kann sich das gar nicht vorstellen, wie das Leben plötzlich aus den Fugen gerät. Nichts ist mehr wie zuvor. Aber ich hätte mit dieser Wahl nicht leben können.

Wie sind die Reaktionen, die Sie bekommen? Haben Sie viele Mails und Briefe bekommen?

Everts:
Ich kann es schlecht abschätzen, aber die Mails, Anrufe und Briefe aus der Bevölkerung sind zu 90 Prozent zustimmend. In mehr als 3000 Mails wird vor allem für Mut und Zivilcourage gedankt. Unerträgliche Kritik kam von Anhängern der Linkspartei, viel Unverständnis von SPD-Mitgliedern.

Walter:
Viele einfache SPD-Mitglieder haben mir gratuliert und sich herzlich bedankt.

Metzger:
Ganz einfache Menschen sind auf mich zugekommen und haben uns beglückwünscht.

Tesch:
Arbeiter und Handwerker haben meinem Mann gratuliert und ihm gesagt, dass die SPD nicht mehr die Sprache der Arbeitnehmer spreche.

Mit wem haben Sie sich über Ihren Schritt beraten? Wie zu hören ist, war der frühere SPD-Vorsitzende Bökel eingeweiht. Welche Rolle hat er bei Ihrer Entscheidung gespielt?

Everts:
Wir haben Gerhard Bökel am Freitagnachmittag kontaktiert, weil Silke Tesch und ich beide völlig fertig waren. Zerrissen von dem, was auf uns zukommt. Wir wollten uns mit jemand austauschen, der die hessische SPD gut kennt. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir uns aber noch nicht entschieden.

Tesch:
Er hat uns die Konsequenzen aufgezeigt, die uns erwarten: Aufforderung zum Mandatsverzicht und drohender Parteiausschluss.

Gibt es noch mehr Kollegen in Ihrer Fraktion, die Ihnen gefolgt wären? Die Rede ist von den Abgeordneten Paris und Weiss.

Walter:
Wir haben viele Gespräche mit Kollegen geführt. Es gab einige in der Fraktion, die sich angesichts des eingeschlagenen Kurses unwohl fühlten. Über diese Gespräche wollen wir aber nicht berichten.

Wie fühlt es sich an, von den eigenen Genossen als Verräter und Schlimmeres beschimpft zu werden?

Tesch:
Das ist das Heftigste im Moment. Man hat doch viele Jahre für die Partei geopfert, kein Wochenende gehabt, wenig Freizeit.

Walter:
Mich hat die Stromlinienförmigkeit in der Partei entsetzt. Dass selbst gute politische Freunde sich genötigt sahen, sich von uns zu distanzieren.

Everts:
Was mich besonders trifft, dass es keinen Respekt für mein Ringen mit meinem Gewissen gibt. Dass alles der Parteiräson untergeordnet werden soll. Die Freiheit des Abgeordnetenmandats wird nicht mehr von allen anerkannt.

Walter:
Ich hatte noch die naive Vorstellung, dass man in der SPD noch ein Stück Respekt erhält, wenn man eine andere Meinung darlegt. Den Druck auf uns ausgehalten zu haben, darauf können wir stolz sein.

Metzger:
Ich bin erschüttert, dass die Stimmung in der SPD von Resignation und Angst geprägt ist . . .

Everts:
. . . und von einer scheinbaren Ausweglosigkeit.

Herr Walter, Sie haben die Stromlinienförmigkeit in der hessischen SPD beklagt. Frau Tesch, Sie fühlten sich mit Ihrer Kritik nur noch als Störenfried. Was ist da schiefgelaufen in der hessischen SPD?

Metzger:
Dass nicht beide Parteiflügel, also auch der rechte, in den vergangenen Jahren mitgenommen wurden. Man braucht aber beide Flügel, um abheben zu können.

Walter:
Wir haben einen Teil der Partei, die glaubt, im Besitz der Wahrheit zu sein, allein für das Schöne und Gute zu stehen.

Tesch:
Und irgendwann kam auch Personenkult auf.

Everts:
Wenn Politik Züge von Religion annimmt, führt das zwangsläufig zum Ausschluss von kritischen Stimmen.

Warum haben Sie sich nicht wie Frau Metzger vor sieben oder acht Monaten zu diesem Schritt durchgerungen? Sie hätten der SPD, Frau Ypsilanti, Kurt Beck, den hessischen Bürgern und sich selbst viel erspart.

Everts:
Ich habe am 26. Februar, gleich nach der Hamburg-Wahl, in der Fraktion mein Problem mit der Linkspartei thematisiert. Da ist immer wieder von Frau Ypsilanti und anderen drüber hinweggegangen worden. Aber ich habe mich auf die Diskussion lange Zeit eingelassen. Und am 23. September habe ich in der Fraktion die von den Grünen verlangte Probeabstimmung kritisiert, weil ich sie für rein deklamatorisch hielt. Ich wusste bei dieser Abstimmung nicht, was in einem rot-grünen Koalitionsvertrag steht. Ich habe mir auch vorbehalten, nach dem entscheidenden Parteitag am 1. November anders zu entscheiden.

Tesch:
Ich ärgere mich heute, dass ich damals im März im Landesausschuss nicht mutig genug war und Dagmar Metzger beigesprungen bin.

Tut Ihnen Frau Ypsilanti leid? Sie hat sich ja fest auf Ihre Stimmen verlassen.

Everts:
Das Problem bei ihr war ihre Basta-Haltung, wie bei Schröder, aber von links. Sie wollte durchregieren. Deswegen liegt die politische Verantwortung für die jetzt entstandene Lage bei ihr.

Tesch:
Unsere Bedenken wurden zu keinem Zeitpunkt ernst genommen. Wenn wir uns kritisch geäußert haben, fühlten wir uns ungeheuer unter Druck gesetzt.

Metzger:
Sie hat den Zug so schnell fahren lassen, dass die drei nur im letzten Augenblick abspringen konnten. Wir sind nicht die Bösen.

Wann werden Sie Ihren Parteifreunden persönlich erklären, warum Sie Andrea Ypsilanti nicht zur Ministerpräsidentin wählen können?

Walter:
Wir werden am nächsten Dienstag selbstverständlich in die Fraktion gehen. Diese Woche haben wir uns und allen anderen erst mal Zeit gegeben, die Dinge setzen zu lassen.

Everts:
Ich habe meinem Wahlkreis einen Brief geschrieben, aber ich will mich auch gerne persönlich der Diskussion stellen.

Tesch:
Ich habe meinem Unterbezirk eine persönliche Erklärung gegeben.

In der hessischen SPD kursieren nun Verschwörungstheorien, was Ihre Motive angeht. Die Bundestagsabgeordnete Lopez behauptet gar indirekt, Sie seien von der Energiewirtschaft bestochen worden. Gab es unmoralische Angebote an Sie, von wem auch immer?

Walter:
Das ist alles Unfug.

Metzger:
Eine Unverschämtheit. Ich erwarte von jemandem, der so etwas behauptet, dass er Beweise vorlegt. Wir werden uns rechtliche Schritte vorbehalten.

Walter:
Ich habe auf ein Ministeramt verzichtet, das mir Frau Ypsilanti angeboten hat, und werde wahrscheinlich mein Mandat verlieren. Solche Vorwürfe fallen auf diejenigen zurück, die sie erheben.

Everts:
Wir stehen vor einer ungewissen beruflichen Zukunft. Aber diese existenzielle Entscheidung war es mir wert.

Tesch:
Kurz vor dem Parteitag ist mir von der Fraktionsspitze noch der Posten des Vizepräsidenten des Landtags angeboten worden. Das hätte mehr Diäten und einen Dienstwagen bedeutet. Ich habe abgelehnt.

In der hessischen CDU war seit Wochen immer wieder die Rede von etlichen Dissidenten in der SPD-Fraktion, die am Wahltag mit Nein stimmen wollten. Gab es Kontakte zu Koch und anderen CDU-Politikern?

Alle:
Nein, überhaupt nicht.

Was sind Ihre weiteren Pläne? Wollen Sie in der Politik bleiben?

Tesch:
Ich will in der Politik bleiben. Mein Ortsverein hat mich auch davon abgehalten, übereilte Schritte zu tun. Ich bin ja auch Kommunalpolitikerin mit Leib und Seele.

Metzger:
Das hängt von der weiteren Entwicklung ab.

Walter:
Wir haben in unserer Pressekonferenz deutlich gemacht, dass es nun die Chance gibt, eine stabile Regierung ohne die Linkspartei zu bilden. Wir haben unseren Wählern versprochen, Roland Koch und seine CDU-Regierung abzulösen. Deshalb wird es mit uns keine wie auch immer geartete CDU/FDP-Regierung geben. Wir werden keinen von FDP und CDU unterstützten Ministerpräsidenten wählen – wie immer er auch heißt.

Sie haben eben gesagt, Sie streben nach wie vor die Ablösung Roland Kochs und seiner CDU-Regierung an. Wie soll das gehen?

Everts:
Die SPD-Spitze kann eine Neuwahl verhindern, wenn sie jetzt endlich mit den anderen Parteien ernsthaft redet und bereit ist, Alternativen jenseits der Linkspartei zu finden.

In der SPD kursiert die Vermutung, Sie vier würden demnächst eine Regierung Koch tolerieren, und Sie, Herr Walter, würden Wirtschaftsminister.

Walter:
Ich habe gerade ein Ministeramt in meiner eigenen Partei abgelehnt. Der Gedanke, Minister in einer Regierung Koch zu werden, ist absurd.

Wenn Sie vier aus der SPD ausgeschlossen werden sollten, können Sie sich einen Wechsel zur CDU oder FDP vorstellen?

Walter:
Wenn wir ausgeschlossen werden, sind wir Sozialdemokraten ohne Parteibuch.

Everts:
Ich werde mich gegen einen Parteiausschluss mit allen Mitteln wehren. Die SPD ist und bleibt meine politische Heimat.

Tesch:
Diese Partei hat in ihrer langen Geschichte immer wieder Kritiker ertragen.

Sollte Andrea Ypsilanti nach diesem Debakel zurücktreten oder es bei Neuwahlen noch einmal als Spitzenkandidatin versuchen?

Everts:
Das liegt nicht in unserer Hand, sondern in der der Partei. Ich hoffe, dass sie klug und weise entscheidet.

Auch Ihre Freunde im Netzwerk und vom rechten Flügel sind wütend auf Sie. Können Sie das verstehen? Warum haben Sie nicht mit denen gesprochen und um Hilfe gebeten?

Everts:
Das ist eine Entscheidung von uns gewesen, die am Ende jeder mit sich selbst ausgemacht hat.

Wie soll es in der hessischen SPD weitergehen?

Walter:
Wir hoffen, dass nun schnell ernsthafte Gespräche mit allen demokratischen Parteien aufgenommen werden.

Tesch:
Ich hoffe, dass die hessische SPD endlich wieder die Kraft findet, andere Meinungen und Kritik zuzulassen.

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